Schullektüre
2023, von Hannah
Wann hast du das letzte Mal die Schullektüre tatsächlich gelesen? In der Grundschule drehten sich die Bücher noch um Teddybären und Kinderdetektive. Sie waren dünn und umfassten knapp 100 Seiten. Zum Komfort der Kinder wurden solche Bücher über mehrere Monate gelesen, was auch an der allgemein langsamen Lesegeschwindigkeit lag. In dieser Phase lernten wir die Welt der Bücher kennen. Alles war einfach geschrieben, die Sätze kurz, die Handlung herrlich übersichtlich. In meiner Grundschule erhielt jeder ein altes Exemplar aus der Bibliothek, und jede Woche lasen wir entweder im Unterricht oder zu Hause ein paar Kapitel. Es dauerte seine Zeit, aber ich mochte es, die Abenteuer der jungen Charaktere in meinem eigenen Tempo zu erleben, und die meisten meiner Freunde teilten diese Freude.
Dann ging es an die weiterführende Schule, und aus Abenteuergeschichten wurden ernste Erzählungen. Obwohl wir uns kaum verändert hatten, erklärte die Schule, dass wir jetzt alt genug seien, Jugendbücher zu lesen. In der fünften und sechsten Klasse gingen viele Erkenntnisse an uns vorbei, da wir sie einfach noch nicht nachvollziehen konnten. In der sechsten Klasse lasen wir zum Beispiel ein Buch über Mobbing an Schulen. Es beschrieb Unsicherheiten und Ängste verschiedener Schüler, die mir beim erneuten Lesen nachhaltig vor Augen führten, wie allgegenwärtig und belastend das Problem des Mobbings ist. Doch im zarten Alter von gerade einmal 11 Jahren schaffte es das Buch kaum bis in unsere Hirne und Herzen - im Gegenteil. Man machte sich lustig über Charaktere und Handlung und behielt das Buch und damit vielleicht auch das Thema als albern in Erinnerung.
Für die meisten Schüler sind Bücher, die in der Schule gelesen werden müssen, die einzigen, die sie im Laufe des Jahres lesen. Wenn dieses eine Buch ihnen nicht gefällt, bleibt es bei dem Einen. Die Schullektüre verdirbt vielen Schülern die Neugier, Begeisterung, Freude und die Lust zu lesen. Wenn ich den Aussagen meiner Mitschüler Glauben schenke, nehmen wenige von ihnen regelmäßig ein Buch in die Hand. Möglicherweise haben sie noch nie ein aus ihrer Sicht wirklich gutes Buch gelesen. Das bestätigt die PISA-Studie der OECD aus dem Jahr 2019. Hier gab die Hälfte der 15-jährigen Schüler*innen an, nur zu lesen, wenn sie dies mussten, um Informationen zu erhalten. Noch krasser ist, dass ein Drittel der Befragten Lesen für Zeitverschwendung hält. Das stimmt mich traurig!
Dabei gibt es viele verschiedene Genres wie Krimis, Thriller, Agentengeschichten, Liebe, High-Fantasy und vieles mehr - für wirklich Jeden etwas Passendes. Doch das deutsche Schulsystem setzt nach wie vor darauf, jedem das gleiche Buch vorzulegen. Kein Wunder, dass die meisten es nicht einmal lesen. Dessen ungeachtet wirst du im Deutschunterricht von Jahr zu Jahr mit längeren Büchern, komplizierterer Sprache und vielschichtigeren Charakteren konfrontiert, dazu noch Gesellschaftskritik der jeweiligen Epoche.
Inzwischen werden dir jedes Jahr aufs Neue 1, 2, vielleicht 3 literarische Werke vorgesetzt. Am besten von einem längst verstorbenen Vertreter des von Deutschlehrern heiß geliebten Sturm und Drang. Als wären diese das Beste, was die Literatur zu bieten hat. Damit wir uns richtig verstehen: Auf keinen Fall möchte ich die Werke von Schiller, Goethe und anderen längst verstorbenen Schriftstellern herabsetzen. In ihren Gedichten und Dramen prangerten sie Sorgen und Missstände der Gesellschaft an und drückten tiefe Gefühle wie Liebe, Freude, Leid, Eifersucht, Machtgier und Tragik mit ihren Worten auf beeindruckende und zeitlose Weise aus. Sie waren ihrer Zeit voraus und versuchten der Gesellschaft ihre Erkenntnisse über Lyrik, Theaterstücke und Romane nahezubringen. Sicher haben sie viel zur gesellschaftlichen Entwicklung beigetragen.
Heute, knapp 250 Jahre später, haben die Werke nicht an Aktualität verloren. Die Handlungen, oft durchdrungen von großer Liebe oder großem Unglück, sind tiefgründig und spannend. Jedoch macht die hochgeistige, altertümliche Sprache es für Schüler anstrengend, die Texte zu verstehen. Einige werden sich vermutlich beim Interpretieren der Szenen quälen müssen, während andere sich einfach die Playmobil-Zusammenfassung auf YouTube ansehen. Deren Buchexemplar landet nach intensivem "So tun, als ob man es gelesen hätte" wahrscheinlich im hintersten Fach des Schranks und wird nie wieder Sonnenlicht sehen. Um diesem Umstand entgegenzuwirken, könnten die Schulen regelmäßig das entsprechende Theaterstück besuchen. Die Dramen wurden schließlich für die Bühne geschrieben. Und dort erwachen sie zu neuem Leben; die Schauspieler vermitteln eindrücklich die Tiefe, Fülle und Begeisterung an die Zuschauer. Ich selbst habe gemerkt, dass ich die Handlung beim Ansehen der Figuren in Kostüm und mit Bühnenbild besser nachvollziehen kann. Die Vorstellung hat noch Stunden später auf mich gewirkt, und einige Aussagen werden mir erst im Nachhinein klar und bedeutsam.
In jedem Fall hoffe ich, dass man versucht, Schülern den Handlungskern näherzubringen, ob nun auf die altmodische Art oder mit Neuinterpretation, Schauspiel oder Film. Lehren darf Feuer entfachen; bitte füllt uns Schüler nicht nur mit Wissen wie Gefäße.